Die Welt der Zahlen


Es gibt Dinge, die lassen sich verändern, und manche nicht


Ich fühlte mich bedroht. Von einer Zahl. Eigentlich waren es sogar zwei Zahlen. Die eine davon war mein drohendes Alter. Demnächst war Halbzeit. Eine Zahl, die an sich keine Bedeutung hat und die nur durch das Erlernen, dass es eine bedeutende Zahl ist, an Bedeutung erlangte. Eine Zahl, die danach schreit, zu schauen, was erreicht wurde und was noch nicht. Eine Zahl, die Sinnbild für eine Waagschale darstellt. Dabei sollte man sich dessen bewusst sein, dass dies eine künstliche Zahl ist. Eine, die von der Gesellschaft zu diesem Zweck auserkoren war. Ich war schwach. Bei mir wirkte diese Zahl. Die andere war mein Gewicht.

Die eine Zahl konnte ich ändern, die andere nicht. Es war nicht so, dass ich von außen betrachtet dick war. Aber mir gefiel die Gewichtstendenz nicht. Daher beschloss ich, Abhilfe zu schaffen. Ich glaube nicht an den langfristigen Erfolg von Diäten. Ich bin überzeugt davon, dass nur eine dauerhafte Ernährungsumstellung zum Erfolg führen kann. Also bin ich bei WW gelandet- im Alleingang. Nie würde ich zu einem Treffen gehen. Denn der Wunsch nach Veränderung und die daraus folgende notwendige Disziplin können nur aus einem selbst heraus kommen. Und so kaufte ich mir bei ebay alles Notwendige zusammen und fing an zu rechnen. Nach dem alten Punktesystem.

Diese Umstellung hatte weitreichende Konsequenzen. 18 Punkte hatte ich pro Tag zur Verfügung. Und eh ich mich versah, bestand alles um mich herum, was mit Essen zu tun hatte, aus Mathematik. Der Taschenrechner wurde zu meinem Begleiter. Ich hatte Mathe Leistungskurs gehabt, hätte aber keine Chance, bei Aldi an der Kasse anfangen zu können. In der 5. Klasse hatte ich beim Kopfrechnen bei Klassenarbeiten von einer Freundin abgeschrieben. Am Unvermögen, im Kopf mit Zahlen zu jonglieren, hat sich nichts geändert. Mit mehr als drei Bällen kann ich es sowieso nicht. Die Bälle fallen so furchtbar schnell aus der Hand. Aber einen Taschenrechner kann ich bedienen. Am Anfang brauchte ich so lange, um auszurechnen, wie viele Punkte dieses und jenes hatte, dass ich hinterher auf dieses oder jenes gar keinen Hunger mehr hatte. So kann man sein Problem auch lösen. Das Einschneidendste war das Sommerfest bei der Arbeit. Es wurden Waffeln verkauft. Und ich liebe Waffeln. Leider, für ihn, zum Glück, für mich, war mein Kollege in einem früheren Leben Bäcker, Bäckermeister und Konditor gewesen. Wir brauchten 15 min, um festzustellen, wie viele Punkte wohl eine Waffel haben könnte, auf 5 sind wir gekommen. Stolz entschied ich mich, meinem weltlichen Verlangen nachzugeben, und begab mich auf den Weg zu den Waffeln. Die es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gab. Wie heißt das Sprichwort? „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. In meinem Fall müsste es eher heißen, den belohnt es. Wer auf solch eine Weise lebt, hat keine Zweifel daran, sein Wunschgewicht zu erreichen. So kam es auch.

Aber die drohende andere Zahl hing immer noch wie ein Damokles-Schwert über mir. Ich entschied mich, mein Leben aufzuräumen. Dies ist durchaus wörtlich gemeint. Ich las „Couch dich selbst, sonst coacht dich keiner“. Ein Buch, das mir viel gebracht hat, nämlich die Entscheidung, mich jeden Tag von einer Sache zu trennen. Das erste, von dem ich mich trennte, war ein alter kaputter Regenschirm, den ich mal als Jugendliche geschenkt bekommen hatte. An dieser Stelle mag man sich fragen, warum man kaputte Dinge aufhebt. Darauf finde ich immer noch keine Antwort. Nach und nach verschwanden defekte Gegenstände aus meinem Haushalt. Irgendwann zog das Probleme nach sich, weil ich nicht mehr wusste, in was für einer Schüssel ich Cornflakes essen sollte, denn die alte hatte ich wegen eines Sprungs entsorgt. Aber man arrangiert sich. Und ich wollte ja sowieso mein Gewicht halten.

An einem bedeutsamen Tag entschied ich mich, mein Fahrrad frei zu lassen. Ich pumpte die Reifen auf, entfernte Schlösser und Kennzeichen, die auf einen Besitzer hindeuten könnten, und stellte das gute, voll funktionsfähige Stück vor ein Studentenwohnheim in meiner Nähe. Aber meine Wohngegend ist nicht wie andere. Zwei Wochen lang stand das herrenlose Fahrrad dort. Vermutlich hat es dann der Hausmeister entsorgt. Aber seitdem habe ich ein tiefes Vertrauen in meine Wohngegend. Hier kommt nichts weg, nicht mal das, was dazu bestimmt ist.

Mit dem Aufräumen war ich 3 Tage vor der Zahl fertig. Das Vorletzte war, dass ich mich meiner bis dahin 6 Jahren andauernden Beziehung, die keine Zukunft hatte, entledigte. Das Letzte war, dass ich Weichen legte. Danach wurde ich ruhiger.

Und am Tag der Zahl ging ich zur Arbeit und man hatte sie vergessen.

by C.G.

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